"Lisa's Sax" büßt bei mehrmaligem Anschauen viel vom einstigen Glanz ein. Ich halte die Folge nicht einmal mehr für die beste in Staffel 9 - das ist wohl eher Scullys "The Cartridge Family". Dabei hätte die an und für sich wunderschöne Geschichte das Zeug zur echten Spitzenfolge. Warum sie es nicht ist, erklärt möglicherweise ein Blick hinter die Kulissen. Die Folge wurde von Al Jean geschrieben und produziert. Mike Reiss ist offiziell der zweite Executive Producer gewesen, hielt sich bei dieser Folge laut eigenen Aussagen aber stark zurück. Selbst scherzt Reiss (im DVD-Kommentar) sinngemäß, dies würde zeigen, daß die hohe Qualität der früheren, gemeinsam produzierten Staffeln eigentlich nur auf Jean allein zurückginge. Das möchte ich in aller Vehemenz bestreiten. Wenn man zusätzlich gewisse Aussagen über die Sherry-Bobbins-Folge betrachtet (wonach Reiss derjenige war, der keinen Zauberei-Kram haben wollte) und sich die Ödnis von Jeans S1x-Werken vor Augen hält, kommt man um den Gedanken nicht herum, daß Jean vielleicht sehr wohl jemanden wie Reiss an seiner Seite braucht, der ihm sagt, was gut ist und was er lieber lassen sollte. "Lisa's Sax" zeigt nämlich auf knapp zwanzig Minuten komprimiert ein perfektes Bild der in späteren Staffeln aufkommenden Jeanschen Tendenz, gutes Material selbst anzupatzen und kaputtzumachen, um das Publikum nicht zu verschrecken, das sich von einer lustigen Zeichentrickserie berieseln lassen will. Mit dem einzigen Unterschied, daß bei "Lisa's Sax" das gute Material nicht nur gut, sondern fantastisch ist und das Kaputtmachen daher umso mehr schmerzt. In der Folge geht es sowohl im Haupt- wie auch im Nebenplot um die Probleme des US-Bildungssystems, das einerseits dem enthusiastischen Schulanfänger Bart sofort alle Freude am Unterricht raubt und ihn in den späteren Lehrerschreck umpolt, andererseits aber auch der hochbegabten kleinen Lisa die Teilnahme an einer standesgemäßen Vorschule verwehrt, weil Homer und Marge nicht genug Geld haben. Ein sehr interessantes und stets aktuelles Thema. Am nötigen Rückblickfolgen-Flair mangelt es der Folge auch nicht. So kann man etwa Schneeball I bestaunen, zwischendurch erklingt "Don't worry, be happy", und die Anspielung auf "All in the Family" mit Homer und Marge am Klavier paßt auch irgendwie schön dazu. Die Atmosphäre einer vergangenen Ära wie etwa in "The Way We Was" ist das nicht gerade, aber der begrenzte Zeitrahmen bietet hier auch viel weniger Möglichkeiten, als wenn man gleich um mehr als ein Jahrzehnt in der Zeit zurückschreitet. Barts Charakterisierung als braves Kleinkind, das sich auf den ersten Schultag freut, paßt möglicherweise nicht so ganz zu seiner Darstellung in früheren Rückblickfolgen, aber erstens ist es normal, daß ein Kind mehrere Phasen durchläuft und sich auch ein kleiner Lausejunge von der Begeisterung auf das neue Abenteuer Schule mitreißen läßt, und zweitens wird die Charakteristik bei Bart in dieser Folge sowieso nur leicht angedeutet. Lustig sind dabei die jüngeren Versionen von Milhouse und Jimbo; realistisch die kleine Beobachtung, daß Bart seine Depressionen mit finsteren Zeichnungen verarbeitet. Schön zu sehen, daß Homer - dem die später in der Staffel aufkeimende Jerkass-Eigenschaft hier noch völlig abgeht - und Marge sich sofort um Barts und Lisas Probleme kümmern. Der Grundtenor des Bart-Nebenplots hat zwar einen humorvollen Ton, ist im Grunde aber eigentlich recht traurig, wenn man bedenkt, daß es auch im echten Leben gewiss ein paar Lehrer und Schulpsychologen gibt, die so agieren wie die Figuren in dieser Folge. Ich hatte in der Volksschule so eine Schreckschraube als Werklehrerin, die jeden, der nicht häkeln lernen wollte/konnte, als untauglich fürs Gymnasium bezeichnete. Die Realität übertrifft die Satire bisweilen. (Im Gegensatz zu Bart bin ich deshalb allerdings kein Schulhofheld geworden.) Sei es, wie's sei, der wahre Star der Folge ist natürlich Lisa. Die Zeichner haben sie unheimlich niedlich dargestellt, und so verhält sie sich auch; wenn sie zum Beispiel wütend ihre zum Wort "star" aufgestapelten Buchstaben-Würfel umstößt, weil ihrem älteren Bruder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird (woraufhin die Würfel "rats" ergeben - nettes Detail am Rande), oder wenn sie beim Schulpsychologen ihr Alter in Bruchzahlen angibt und danach ganz begeistert aufnimmt, daß die Zukunft ihr gehöre. Genau so und nicht anders stellt man sich eine jüngere Version von Lisa vor. Top-Charakterisierung. Wie Lisa nun tatsächlich zu ihrem Saxophon kam, ist kein sonderlich aufregendes Ereignis, in seiner Schlichtheit aber sehr schön: Homer opfert das Geld für die ersehnte Klimaanlage ohne lange zu zögern dafür, daß er die Begabung seiner Tochter fördern kann, und kauft das Instrument. Ob die Sache ohne den Gag mit dem eingravierten "D'oh" nicht noch schöner gewesen wäre, darüber läßt sich streiten (ich finde: ja), aber das ist nur ein kleines Detail, das nicht weiter stört. Daß Homer sein Opfer in der Gegenwart wiederholen muß, ist die schicksalhafte Gerechtigkeit dafür, daß er die Ereignisse in Gang gesetzt hatte, die schließlich dazu führen sollten, daß Bart Lisas altes Saxophon vernichtet. Darauf folgt die berühmte, wunderbare, tolle Sequenz mit den Szenen aus alten Folgen, bei denen Lisa spielt, mit Baker Street als Hintergrundmusik. Was für ein perfektes Ende. Leider ist es nicht das Ende. Das tatsächliche Ende reißt den Zuseher so abrupt aus der schönen Stimmung, als ergötze man sich gerade an einer Mozart-Arie, und im selben Moment schaltet irgendjemand den Fernseher ein, aus dem der Song Contest dröhnt. Anstatt die Folge nämlich mit Baker Street und den alten Lisa-Clips ausklingen zu lassen, wird alles mit einem idiotischen Grampa-Witz und einem ebenso dummen Apu-Auftritt kaputtgemacht. Nur um die Folge auf die benötigte Laufzeit auszudehnen, hat Al Jean also diesen Müll hinten drangehängt. Ewig schade drum. Freilich wurde auch die Baker-Street-Sequenz nur aus Zeitgründen dazugehängt. Das ist per se nichts verwerfliches, nur in diesem Fall muß man sich an den Kopf greifen bei soviel Selbstzerstörungswut des Autors. Aber genau wie die Baker-Street-Sequenz der Höhepunkt aller guten Seiten an der Folge ist, so ist das kaputtmachende Ende bloß der Höhepunkt aller schlechten. Der zwanghafte Humor ist das Hauptproblem in "Lisa's Sax". Das Zurückschalten in die Gegenwart wird so fast ausschließlich für irgendwelche unnötigen Witzchen mißbraucht. Grampa darf sich mehrmals zum Clown machen, dann taucht plötzlich ohne jeden Grund Apu vor dem Fenster auf, und Al Jean läßt diese Tatsache lustigerweise auch noch besingen, womit er sein Desinteresse an Logik hochjubelt. Von den vielen TV-Anspielungen sind die meisten zu langatmig und daher langweilig. Ein paar geglückte eingestreute Spaß-Szenen gibt es zwar, aber es ist letztlich nichts, was einen richtig vom Hocker reißt. Der Humor, so fühlt es sich meist an, hat eher die Funktion, die emotionalen Szenen ein wenig zu übertünchen, anstatt sie nur zu ergänzen. Das Gesamtbild ist damit natürlich sehr uneinheitlich. Mal nimmt sich die Folge selbst ernst, dann plötzlich wieder nicht. Da scheint leider schon S1x durch. Anstatt etwa der Zerstörung des alten Saxophons die dem Ereignis zustehende Dramatik zu verleihen, wird ein Moleman-Witz (auch eine TV-Anspielung) in die Szene gequetscht, der überhaupt nicht zur Stimmung paßt. Derartige Probleme gibt es in David Mirkins "Maggie Makes Three", um einen weiteren Vergleich mit einer anderen Rückblickfolge anzustellen, beispielsweise nicht; dort fährt die Geschichte sauber und solide auf der heiteren Schiene, und erst ganz am Schluß findet ein sanftes Übergleiten ins melancholisches Ende statt, das dafür auch von keinerlei Witzen gestört wird. Das Bild ist einheitlich, ganz im Gegensatz zu "Lisa's Sax". Viel Licht, viel Schatten. Ohne das destruktive Ende und mit weniger Witzigkeit um jeden Preis wäre die Folge bedeutend besser. Note: 2+